Überlebensstrategien

Überlebensstrategie 1-3: Ablenkung, Betäubung und Kompensation

Prinzipiell ist nichts gegen diese Überlebensstrategien einzuwenden, solange ich diese nur vorübergehend nutze, um mein emotionales Leid kurzfristig zu lindern oder Ressourcen in mir aufzubauen, um meine Emotionen durchleben zu können. Gefährlich wird’s dann, wenn ich dieses Aufschieben mit der Lösung meiner Emotionen verwechsele und die Strategien nutze, um meine Emotionen nie mehr fühlen zu müssen. Solange ein guter Wein oder ein Filmchen nur Pausen-Funktion hat, ist also nichts gegen diese Hilfsmittel einzuwenden.

Betäubung

Hierzu zählen alle stofflichen Süchte, aber auch Verhaltenssüchte wie Shopping, Informationen, Unterhaltung, Computerspiele, Essen, Arbeiten uvm. sowie alle Vorstufen zur entsprechenden Sucht.

Ablenkung = Gedankenspiralen-Pausentaste

Einen Film gucken oder mich beim Sport auspowern kann helfen, mal abzuschalten, wenn ich in Gedankenkreisen (i.d.R. Dramen) feststecke und mich statt mich einfühlsam um meine Emotion zu kümmern, eher immer tiefer in den Leidensstrudel gerate. Doch jede Ablenkung kann auch zur betäubenden Sucht werden!

Kompensation

Wenn ich gerade etwas Unangenehmes fühle, kann ich nicht nur mein Gefühl betäuben (durch Suchtmittel oder Ablenkung), sondern auch diese unangenehmen Gefühle durch angenehme vorübergehend kompensieren. Ich kann mir z.B. ein Stückchen Schokolade oder einen kleinen Flirt gönnen, quasi als Trostpflaster.

Überlebensstrategie 4: Abreagieren

Diese Strategie wird meist für viel gesünder gehalten als alle anderen, weil ich hier doch scheinbar meine Gefühle nicht wegdrücke, sondern zulasse. Dabei gibt es zwei Hauptrichtungen des Abreagierens:

  • körperlich

  • emotional – auch rein mental (d.h. still im Kopf) oder mit mir alleine (dafür auch laut)

körperliches Abreagieren

Ich nutze gerne Badminton, um mich körperlich abzureagieren. Auf dem Feld erlaube ich mir zu schreien und in den nächsten Schmetterschlag kann ich all meine Wut und Verzweiflung packen, die ich gerade nicht näher fühlend anschauen möchte.

In gewissen Maße halte ich das für eine gesunde Form, meine emotionale Anspannung zu erleichtern. Generell hilft mir Bewegung oder intensive Beschäftigungen meinen inneren Stress und innere Anspannung abzubauen. Außerdem setzt Sport bekanntlich Glückshormone frei – kann also nicht schaden, oder?

Doch wenn ich dies als dauerhafte Lösung versuche. Denn es kann nicht meine Emotion auflösen helfen, weil es auf einer anderen Ebene – eben nicht der emotionalen – ansetzt und ich eben nicht bereit bin mich fühlend meiner Emotion liebevoll zuzuwenden. Ich will ihr lieber „davonlaufen“. Deshalb kann ich auch vom körperlichen Abreagieren auf Dauer abhängig werden, wenn ich sie nutze, um meinem Fühlprozess konsequent auszuweichen.

emotionales Abreagieren = Abreagieren durch Ausagieren der Emotionen

Das scheint erst mal eine Lösung zu sein, schließlich findet sie auf der emotionalen Ebene statt. Doch sie ist auf Trennung ausgerichtet. Trennung vom tieferen Fühlen (z.B. des Schmerzes hinter meiner Wut) und Trennung von anderen (z.B. meinem Widersacher). Das kann auch bei meinem Zuhörer auf Widerstand treffen, weil er sich als „emotionale Mülleimer“ missbraucht „fühlen“ kann.

Und wenn ich es alleine betreibe (auch laut, z.B. auf mein Kissen schlage, schreie und weine) oder nur in meinem Kopf (nach dem Motto »die Gedanken sind frei, niemand können sie stören!«) oder mit Menschen, die gerne mitmachen, dann ist es dennoch nicht heilsam. Es fehlt die anteilnehmende Unterstützung des Zuhörers und wirkt trennend, weil letztlich tiefes Fühlen verhindert wird und somit nicht innerlich und äußerlich verbindend und befreiend wirken kann. Vivian bezeichnet dies als „unbewusste emotionale Entaldung“.

vgl. Umgang mit Emotionen, Weg 1 sowie Heilsames von unheilsamen Fühlen unterscheiden

Wieso ist Emotionales Abreagieren – ohne anderen zu schaden – dennoch kontraproduktiv? Was ist der Haken an unbewusster emotionaler Entladung?

Gegenargumente / „Haken“ bei der unbewussten Entladung:

  1. Beziehungsschädigend bei hierarchischen Abreagieren oder auch in gleichberechtigten Beziehungen („emotionale Mülleimer“)

  2. „Dampf-ablassen“ fühlt sich zwar kurzfristig gut an (verschafft mir eine Art Befriedigung oder Genugtuung), jedoch bringt es langfristig keine Erleichterung, weil es die Emotion eher zementiert als sie durch liebevolles Hineinspüren aufzuweichen.

  3. Die notwendige Unterstützung fehlt, um mit der Emotion eine nicht überfordernde Erfahrung zu machen und damit alte Verletzungen loslassen zu können.

Dasselbe gilt für das Lästern mit anderen über meine Auslöser-Person, um die Ladung, die sie durch ihre Worte oder Taten in mir ausgelöst hat, entladen zu können.

Oder auch wenn ich mich rein mental – als nur leise in meinem Kopf – abreagiere. Also mir z.B. vorstelle, wie mein Chef einen grausamen, aber gerechten Tod erleidet oder wie ich ihn wild beschimpfe. Auch hier ist das Problem, dass ich mich dadurch nur tiefer in meine Emotion verstricke statt sie liebevoll aufzulösen.

„Auch wenn es uns eine gewisse subversive Befriedigung verschaffen mag: Emotionale Heilung erfahren wir so nicht. … Das hat mir nicht nur meine persönliche Erfahrung gezeigt, sondern es wurde inzwischen durch zahlreiche Studien bestätigt. Wut einfach rauszulassen – ob an unschuldigen Bäumen, der Person, die uns aktiviert hat, oder einem unschuldigen Lehrjungen – führt dazu, dass diese Stimmung sich verfestigt, selbst wenn wir vielleicht vorübergehend den Eindruck haben, Linderung zu erfahren. Dies bedeutet übrigens nicht, dass Wut allgemein schlecht ist. Mir geht es hier lediglich um Wutausbrüche oder den Versuch, durch Dampfablassen Linderung von Wut .. zu erfahren.“ (V. Dittmar, S. 74ff)

Überlebensstrategie 6: Gefühle kontrollieren, nichts persönlich nehmen

Ich beobachte bei vielen Menschen – und kenne die Tendenz auch bei mir selbst – dass Menschen gerne immer in ihrer Stärke, Leichtigkeit und Souveränität bleiben wollen. Da unangenehme, kontrahierende Gefühle dieses „Lebensgefühl“ gefährden, versuchen viele diese Gefühle zu verleugnen und sich selber einzureden, dass ihnen bestimmte Dinge gar nichts ausmachen: »Ne, ist mir doch egal, was die anderen sagen!« Viele befürchten auch mit unangenehmen Gefühlen zu sehr die Beziehung zu den Anwesenden zu gefährden und machen deshalb lieber auf gute Stimmung »Ne, alles gut bei mir!«.

Vivian gibt dieser Tendenz in uns keinen eigenen Namen, doch ich finde sie besonders stark vertreten, deshalb habe ich sie Überlebenstrategie 6 getauft.

„Leider wendete ich [Vivian Dittmar selbst] mich infolge dieser Erkenntnis [Fühlen in Form von Selbstmitleid macht es für sie nur schlimmer] tendenziell von mir selbst ab, wenn es mir schlecht ging. Auch ich habe als Kind den Satz »Jetzt reiß dich doch mal zusammen« zu hören bekommen, wenn ich in unpassenden Situationen in Tränen ausbrach. Dieser Satz und die dahinterliegende Haltung prägten dann nach meiner Selbstmitleidsphase im Wesentlichen meine Beziehung – oder besser: Nichtbeziehung – zu meinem fühlenden Selbst. Zwar versank ich nun nicht mehr in Selbstmitleid und suhlte mich in meiner einzigartigen Leidensposition. Doch ich wurde kühl, abgeklärt, kontrolliert, distanziert, während meine Päckchen in meinem Rucksack [quasi in meinem „Unterbewusstsein“] weiter vor sich hin rumorten und meine innere Castingagentur Überstunden machte, um mir passende Aktivierungssituationen zu präsentieren.“ (V. Dittmar, S. 117)

Überlebensstrategie 7: „Probehandlungen“

Immer wieder spiele ich im Kopf eine Situation durch, wie ich es hätte besser machen können, wie ich in Zukunft unbedingt handeln will oder auch was alles schief gehen kann und wie schlimm es wird. Dadurch bin ich so beschäftigt, dass ich keine Zeit zum Fühlen im Hier & Jetzt habe. Dies kann in ein Drama (Sackgasse 3) oder eine Analyse (Sackgasse 2) ausarten, muss es aber nicht.

Weil diese Überlebensstrategie wohl auch sehr verbreitet ist, habe ich sie ergänzt. Sie wird von Vivian nicht erwähnt.