Sackgassen

Sackgasse 1 – Geschichten erzählen

Ob mir (Andreas) das Erzählen über unangenehme Erlebnis hilft oder nicht, hängt nicht davon ab, wie ich die Story erzähle – sachlich oder gefühlvoll, detailliert oder zusammengefasst – sondern nur, ob ich dabei fühlend mit meinen Emotionen in Kontakt kommen und sie entladen kann. Dafür braucht es zumindest die ersten beiden Voraussetzungen der Bewussten Entladung, nämlich Anteilnahme und Bereitschaft zum Fühlen (vgl. Voraussetzungen für eine gelungene Entladung).

Ob mein Erzählen als hilfreiche Entladung für mich wirkt, merke ich daran, ob ich dabei meine Emotion fühlen und nach der Entladung eine deutliche Erleichterung und Entspannung spüren kann. Nur dann bin ich auf der emotionalen Ebene angekommen. Meist werden dann meine Worte automatisch weniger!

Als Zuhörer merke ich den Unterschied daran, ob ich selbst berührt werde, von dem was ich höre oder gelangweilt bin bzw. mich schwer konzentrieren kann oder sogar in Widerstand zum Gesagten gerate.

Sackgasse 2 = Überlebensstrategie 5 – Die Analyse: Verstehen wollen, wo es herkommt

Das unbedingte mein Innenleben verstehen wollen, kann die emotionale Verarbeitung verhindern, weil reines Verstehen wollen über den Kopf geht, die Emotionen aus der Vergangenheit allerdings in meiner Gefühlswelt gespeichert sind und deshalb auch nur dort aufgelöst werden können. Ich (Andreas) nutze solche kognitiven Denkprozesse gerne, um den Schmerz oder die Verzweiflung dahinter nicht in ihrem vollen Umfang spüren zu müssen. Doch nur so kann sie sich entladen, Stück für Stück.

„Das Verstehen ist der Trostpreis, es ist der Nebeneffekt der Verarbeitung. Es kann die Verarbeitung sogar verhindern, wenn wir uns davon ablenken lassen und vom Fühlen abkommen. Dann haben wir das Verstehen mit der Verarbeitung verwechselt.“ (V. Dittmar, S. 166)

Merkst Du, dass eine bestimmte Situation immer wieder in Dir Leid (durch Glaubenssätze in Gang gehaltene unangenehme Gefühle) auslöst (wie Schmerz, Verzweiflung, Wut, Angst o.ä.), dann denkst Du vielleicht, dass Du nur verstehen musst, was dies mit Deiner Vergangenheit zu tun hast und schon kannst Du Deine Haltung dazu verändern und es tut nicht mehr so weh. Doch so sehr ich mir auch vornehme entspannter mit einer Situation umzugehen, es gelingt mir einfach nicht, obwohl ich genau weiß, was mich daran so antriggert und wie das mit meiner Biographie zusammenhängt. Es gelingt mir z.B. nicht meinen Absolutheitsanspruch loszulassen, dass sich alle Menschen im Wald ruhig verhalten sollten. Egal wie oft ich mir sage, dass ich ihr Verhalten nicht ändern kann und dass sie frei sind anders zu handeln, als ich mir das wünsche. Erst wenn ich wiederholt im Fühlraum meine damit verbundenen Gefühle und Bedürfnisse durchfühlen konnte, bin ich tatsächlich in der Lage, dass zuzulassen, was ohnehin geschieht und dann erst kann ich mich ohne trennende Energien (wie Ärger oder Hass) dafür einsetzen, dass dies seltener geschieht.

Andererseits kann es schon hilfreich sein, wenn auch der Verstand weiß, worum es geht, auch wenn die Entladung rein über das Fühlen funktioniert. Doch meist wird das kognitive Durchdringen genutzt, um eben nicht tiefer Fühlen zu müssen.

Damit widerspricht Vivian Dittmar der verbreiteten These, dass alleine eine Bewusstwerdung und kognitive Neubewertung alter Emotionen – wie es viele Therapieformen anbieten – diese auflösen kann.

Sackgasse 3 – Der Absolutheitsanspruch: Dramen erkennen und loslassen

Absolutheitsansprüche – was ist das und wozu dienen sie?

Gedanken (Absolutheitsansprüche oder Glaubenssätze) erzeugen in mir (Andreas) zusätzliches Leid statt Kraft zum Handeln, indem sie die aktuelle Situation trennend deuten. Es sind fixe Gedanken, die ich meist schon in meiner Kindheit von anderen übernommen bzw. gelernt habe. Das sind persönliche Glaubenssätze wie ich bin („Ich bin zu …“), was ich nicht kann („Ich bin zu dumm zum …“) oder wie andere mich sehen („Keiner mag mich.“) und auch nach Allgemeingültigkeit strebende Glaubenssätze (Absolutheitsansprüche) wie etwas zu sein hat oder nicht sein sollte (beispielsweise „Pünktlichkeit ist unverzichtbar!!“ oder „Ein Baby sollte bei seiner Mutter sein!!“). Bei einem Absolutheitsanspruch bestehe ich darauf, dass dies nicht nur meine persönliche Sicht der Dinge ist, sondern zwingend für alle gilt.

Meine Glaubenssätze legen sich wie eine gedankliche Schutzschicht um meine Emotionen, um diese nicht fühlen zu müssen. So lenkt mich meine Empörung über Kriege, die gespeist wird aus meinem unumstößlichen Absolutheitsanspruch »Es sollte keinen Krieg geben!«, davon ab, meinen tief sitzenden Schmerz und meine Ohnmacht angesichts der vielen Kriegsopfer zu spüren. Meine Psyche nutzt da einen simplen Trick: Etwas was nicht sein sollte, brauche ich auch nicht zu betrauern, sondern kann mich höchstens darüber empören. Und je mehr Menschen Anspruch teilen, desto mehr glaube ich, dass er wahr ist, obwohl das alles nichts daran zu ändern vermag, dass die Realität manchmal nicht mit meinem Absolutheitsanspruch übereinstimmt.

Wenn ich hingegen diesen Absolutheitsanspruch loslassen kann, ohne dabei meinen Wert von Frieden aufzugeben, dann werde ich innerlich weich und kann betrauern, dass meine Sehnsucht nach Weltfrieden noch nicht erfüllt ist.

Da meine Glaubenssätze mit der Zeit zu einem wichtigen Schutzmechanismus vor meinen unangenehmen Emotionen geworden sind, reagiere ich äußerst empfindlich, wenn jemand versucht an meinen Glaubenssätzen zu rütteln. Deshalb kann ich sie auch selbst nur behutsam und langsam hinterfragen, während ich mich gleichzeitig liebevoll meinen dahinter liegenden Emotionen bejahend und liebevoll zuwende (vgl. ).

Absolutheitsanspruch versus Werte

Absolutheitsansprüche sind bei Licht betrachtet etwas ganz anderes als die eigenen Werte. Beim ersten sage ich: »Das sollte so sein, dass muss so sein!« und erlebe Leid, wenn dem nicht so ist, während ich beim zweiten anerkenne, dass es ggf. gerade nicht so ist, wie ich es mir zutiefst wünsche und mein Wert stets meine persönliche Ansicht ist, die vielleicht Millionen andere mit mir teilen. Das meint nicht, dass ich nicht für meine Werte und Wünsche eintreten soll und alles versuchen darf, meine Vision von der Welt umzusetzen, die ich mir wünsche. Es soll mir eben nur nicht durch seine Absolutheitsanspruch im Weg stehen zu Fühlen, was gerade wirklich in mir lebendig ist. (Und auch zu sehen, was wirklich gerade in der Welt geschieht.)

Ich kann auch den Unterschied fühlen. Absolutheitsansprüche fühlen sich – wie auch persönliche Glaubenssätze – in mir eng, hart, verbissen, ausweglos, alternativlos, unveränderbar und gewalttätig an. Ich muss den anderen von meinem Anspruch überzeugen um jeden Preis und kann andere Betrachtungsweisen noch nicht mal denken. Werte hingegen fühlen sich in mir verletzlich, weich, kraftvoll, weit und liebevoll an. Ich spüre die tiefe Sehnsucht und kann mich gleichzeitig für den Schmerz in mir öffnen, wenn sie unerfüllt sind. Den Unterschied spüre ich auch sehr deutlich in Konflikten mit anderen, wo es meist um Recht-haben-Wollen geht statt um Klarheit und Verbindung. Im Namen großer Ideale werden oft schreckliche Dinge getan, die sich letztlich teilweise sogar gegen das eigene Ideal wenden. (Beispiel: Niemand sollte einen anderen Menschen schlagen. Um dieses Wert durchzusetzen, werde ich manchmal erschreckend gewaltbereit und denke, dass nun das Gute das Böse bekämpfen müsse und dass dabei alle Mittel erlaubt seien.) 

„Doch ich [Vivian Dittmar selbst] konnte erst beginnen, diesen Wert [mich für einen anderen Umgang mit unserem Planeten einzusetzen] konstruktiv zu leben und zu verkörpern, als ich bereit war, die Absolutheitsansprüche, hinter denen er in meinem Inneren verborgen lag, loszulassen.“ (V. Dittmar, S. 91)

Dramen – was ist das und wozu dienen sie?

Wer den Absolutheitsanspruch aufstellt, bestimmt das Drehbuch des zugehörigen Dramas und damit die Rollenverteilung. So kann ich mich im Recht fühlen und eine scheinbare Entlastung erleben. Beispielsweise kann ich mich zum Opfer und meine Freundin zur Täterin erklären, wenn ich den Absolutheitsanspruch verfolge „Verabredungen muss man einhalten“ und meine Freundin mich versetzt. Dann ist sie die Böse, die mir Unerhörliches antut und ich muss nicht meine Gefühle des Alleinseins und meine Verlustangst spüren.

Wenn ich eines meiner Dramen lebe (quasi eine Spezialform von Sackgasse 1), dann kann ich dabei höchst emotional wirken – für mich und für andere (oder auch sachlich-argumentativ). Dennoch ist es kein heilsames Fühlen, weil es mich von anderen trennt statt verbindet, durch die von mir vergebenen Rollen von Opfer und Täter (und ggf. Retter). Ich kann zwar mal Dampf ablassen und das fühlt sich erst mal saustark an, doch ich komme nicht einfühlsam-annehmend fühlend an den Kern meiner Emotion. Beim Hineinsteigern in mein Drama entsteht langfristig sogar eine neue Schicht um mein Emotion und mein Last an ungelebten Gefühlen in mir wird größer. Dies geschieht, weil ich mich auf Grund der trennenden, unversöhnlichen Energie selbst verletze bzw. meine Verletzung hinter meiner Emotion erneut im Stich lasse (liebloser statt liebevoller Erwachsener, lässt das innere Kind im Stich) oder die Abwehrstrategien meiner Zuhörer mich unbewusst verletzten.

Dabei ist es unerheblich, um ich mein Drama still (z.B. vor mich hinschmollend) lebe oder heftig nach außen auslebe (z.B. meine Partnerin anschreie). Beides verhindert gleichermaßen echtes Fühlen und damit die Entladung als Voraussetzung für Verbindung statt Trennung. Welche Form Du bevorzugst hängt oft von Deiner Erziehung und Deinem kulturellem Umfeld ab.